Mesotherapie: Entdeckung und Entwicklung eines europäischen Heilverfahrens

Aus: Die Naturheilkunde, Heft 6-2017, Dezember 2017
von Dr. med. Britta Knoll

In der Medizin führt der Zufall manchmal zu den wirksamsten Therapien: Alexander Fleming entdeckte 1928 auf nicht gereinigten Petrischalen die Bakterien abtötende Wirkung von Penicillium-Pilzen und entwickelte daraus das erste moderne Antibiotikum Penicillin. Aus reiner Neugier entdeckte Robin Warren 1979 auf einer Gewebeprobe eines Magengeschwürs unbekannte Bakterien und konnte mit Barry Marshall Jahre später nachweisen, dass Magengeschwüre mit Antibiotika effektiv zu behandeln sind. Und völlig unerwartet waren die Nebenwirkungen von Sildenafil, das als Mittel gegen die koronare Herzerkrankung versagte, dafür aber als Potenzmittel für Milliardenumsätze sorgte. Und auch die Entdeckung der Mesotherapie ist dem Zufall zu verdanken.

1952 experimentierte der Arzt Michel Pistor in Bray-et-Lû, einem kleinen Dorf nordwestlich von Paris, mit dem Lokalanästhetikum Procain. Zu seinen Patienten zählte der Schuster des Dorfes, der an Asthma und Taubheit litt. Pistor verabreichte ihm intravenös eine einprozentige Procainlösung, um damit sein Asthma zu lindern. Die erhoffte Besserung trat nicht ein, dafür konnte der Schuster aber plötzlich wieder hören. Auch wenn der Erfolg nicht lange anhielt, bescherte er Pistor diverse taube Patienten aus der Region. Bei ihnen wiederholte er seinen Versuch, doch die erwarteten Besserungen blieben aus. In einer späteren Filmaufzeichnung erzählt Pistor dazu: „Ich war schon dabei, diese Art der Behandlung wieder aufzugeben, als ich die Idee hatte, dass es doch logischer wäre, zur Verbesserung der Taubheit eher in der Nähe des Ohres zu injizieren als in die Vene des Armes.“1

Das half, aber ganz anders als gedacht: Nicht unbedingt die Taubheit besserte sich, sondern bei einem Patienten das Sehvermögen, bei einem anderen dessen Gehörgangekzem, bei einem weiteren die Migräne im Bereich der Schläfe oder rheumatische Beschwerden. Pistor war damit einem neuen Heilverfahren auf die Spur gekommen, hatte gleich dessen breit gefächerte Einsatzmöglichkeiten entdeckt und gab ihm einen Namen: „Die besten Ergebnisse wurden in Regionen mit vaskulären oder artikulären Pathologien erzielt. Diese bevorzugte Wirksamkeit bei mesodermalen Pathologien hat dazu geführt, dass ich für diese Behandlung den Namen ‚Mesotherapie’ vorschlage.“1

Das alles ist mittlerweile 60 Jahre her. In dieser Zeit hat sich die Mesotherapie als ein europäisches Heilverfahren rasant weiterentwickelt. Und hatte Pistor, der 2003 verstarb, anfangs nur Procain verabreicht, so dient das Lokalanästhetikum heute nur als Trägerlösung für Medikamente und Wirkstoffe aus der Schulmedizin und der Naturheilkunde.

 

Ein topisches Heilverfahren
Das wichtigste Merkmal der Mesotherapie hatte Pistor gleich zu Beginn intuitiv entdeckt: Ihre Anwendung erfolgt topisch, also vor Ort, und nicht intravenös oder intramuskulär und führt somit auch nicht über den enterohepathischen oder den Blutkreislauf. Der Vorteil hierbei: Da ausschließlich lokal und gezielt behandelt wird und die Wirkstoffe sich nicht über den gesamten Körper verteilen müssen, kommt man mit deutlich geringeren Mengen aus (low-dose) – das zweite Merkmal der Mesotherapie.

Die Erfahrungen, die Pistor über die Jahre mit seinen Versuchen machte, führten ihn schließlich zur dritten wesentlichen Eigenschaft des von ihm entdeckten Heilverfahrens: Obwohl nur geringste Mengen an Wirkstoffen eingesetzt werden, ist die Mesotherapie meist so wirksam, dass sie nur selten angewendet werden muss.

„Wenig, selten und am richtigen Ort“ sind damit bis heute die wesentlichen Kriterien, die die Mesotherapie auszeichnen. Konkret bedeutet das, dass minimale Mengen an Medikamenten und Wirkstoffen für eine wirksame Behandlung ausreichen. Lang anhaltende Effekte lassen sich oft mit wenigen Sitzungen erzielen und – da jeweils nur der erkrankte Bereich behandelt wird – bleiben systemische Nebenwirkungen aus, was die Mesotherapie zu einem sehr schonenden Verfahren macht.

Die Anwendung erfolgt ausschließlich in Form von Injektionen in die Haut und unter Umständen in das subkutane Fett-Bindegewebe. Das erlaubt den Einsatz von sehr kurzen und feinen Kanülen mit einer Länge von 4 bis 13 mm und einem Durchmesser von nur 0,3 mm. Zudem besitzen diese Kanülen einen besonderen Schliff, der den Einstich nahezu schmerzfrei macht.

Als minimalinvasiver Eingriff regen die Injektionen grundsätzlich die Durchblutung und Sauerstoffversorgung des Bindegewebes an und modulieren die in der Haut befindlichen Immunzellen – unabhängig von den hierbei verabreichten Wirkstoffen. Wie schnell diese angeflutet werden und wie lange sie im Gewebe verbleiben, lässt sich mit unterschiedlichen Injektionstechniken steuern:

  • Bei der epidermalen superfiziellen Technik werden mit der Kanüle lediglich Linien über die Haut gezogen, entlang derer die Wirkstoffe von der Haut resorbiert werden. Die sogenannte Nappage-Technik kann sowohl epi- als auch intradermal als eine lineare Folge multipler Mikroinjektionen ausgeführt werden. Damit lassen sich größere Flächen schnell behandeln. Oft wird ein spezieller Mesotherapie-Injektor verwendet, mit dem Injektionstiefe, zu verabreichende Menge und Anzahl der Injektionen pro Minute genau festgelegt werden können. 
  • Bei der Infiltration werden die Wirkstoffe in geringen Mengen (0,1 ml) nur wenige Millimeter tief in die Haut injiziert. Sie gelangen über Diffusionsprozesse in tiefer liegende Strukturen, aber nicht in den systemischen Kreislauf, da sie vorher in der Matrix des Bindegewebes metabolisiert werden. 
  • Sind aber große Regionen wie Lendenwirbelsäule oder Hüftgelenk betroffen, setzt man die man die Mesoperfusion ein, bei der größere Flüssigkeitsmengen im subkutanen Gewebe verteilt werden (Fachbezeichnung: Hydrotomie oder Tumeszenz-Technik). 
  • Mit der Technik des Quaddelns werden sehr oberflächlich einzelne kleine Wirkstoffdepots anlegt. Die Wirkstoffe werden nur sehr langsam resorbiert und können insbesondere auf die Immunzellen der Haut anhaltend wirken, was z. B. bei der Mikrovakzination von Bedeutung ist.

 

Wirkstoffe
Als europäisches Heilverfahren schlägt die Mesotherapie eine Brücke zwischen klassischer Medizin und Naturheilkunde, vor allem, weil sie die ganze Bandbreite an allopathischen, homöopathischen und weiteren naturheilkundlichen Medikamenten und Wirkstoffen nutzt, die über Injektionen verabreicht werden können. Der Einsatz vieler Medikamente aus der Allopathie erfolgt off-label. So wird etwa zur Behandlung rezidivierender Atemwegsinfekte sowie des Heuschnupfens das Vakzin Strovac in hoher Verdünnung eingesetzt, die klassischerweise gegen chronische Harnwegsinfekte verwendet wird.2

Die Wahl der zu verwendenden Medikamente und Wirkstoffe hängt von der Fachkenntnis und Erfahrung des behandelnden Arztes oder Heilpraktikers ab und natürlich von der Pathophysiologie des jeweiligen Krankheitsbildes. Damit werden individuelle, sozusagen maßgeschneiderte Behandlungen möglich, Unverträglichkeiten können berücksichtigt und Nebenwirkungen herkömmlicher Medikationen vermieden werden. Bei der Zusammenstellung und Verabreichung der Wirkstoffe gelten zudem ein paar Spielregeln, die charakteristisch für die Mesotherapie sind:

  • So werden nicht mehr als 3 allopathische Medikamente in einer Mischung kombiniert. Naturheilkundliche Adjuvantien, die zahlreiche Wirkstoffe enthalten können, werden nach Bedarf hinzugegeben. Sie sind überwiegend natürlichen Ursprungs und i.d.R. gut verträglich. 
  • Cortison wird in der Mesotherapie grundsätzlich nicht eingesetzt. 
  • Die individuelle Zusammenstellung der Medikamente und Wirkstoffe erfolgt unmittelbar vor der jeweiligen Behandlung. 
  • Als Trägerlösung dient ein Lokalanästhetikum wie Procain oder Lidocain, was zusätzlich dazu beiträgt, dass die Injektionen kaum Schmerzen verursachen.

Üblicherweise erfolgen die Injektionen direkt dort, wo die Symptome auftreten. Je nach Indikation können aber auch Akupunkturpunkte aus der Traditionellen Chinesischen Medizin und die Head’schen Zonen (Dermatome) aus der Neural- bzw. Segementtherapie für die Injektionen angezeigt sein. Die ambulante Behandlung selbst dauert nur wenige Minuten. Patienten können meist unmittelbar im Anschluss ihren Alltagsaktivitäten nachgehen.

 

Anwendungsmöglichkeiten
Die Ursprünge der Mesotherapie liegen im kurativen Bereich. Pistor erzielte nach eigenen Angaben anfangs die besten Ergebnisse bei „vaskulären oder artikulären Pathologien“.1 Hierzu zählen Durchblutungs- und Wundheilungsprobleme, rheumatische Erkrankungen, Arthrosen und Kalkschulter.3

Weitere Indikationen für eine kurative Behandlung sind Sportverletzungen und Überlastungsschäden, chronische Infekte, Abwehrschwäche, Stress, Erschöpfungszustände, Schlafstörungen, Kopfschmerzen und Migräne, Alterssichtigkeit sowie gynäkologische Beschwerden und Erkrankungen im Zahn-, Mund- und Kieferbereich.

Präventiv eingesetzt, kann die Mesotherapie die angeborene und adaptive Immunabwehr anregen und so u. a. Pollenallergien, Atemwegsinfekten, Asthma und Herpes vorbeugen. Sie erweist sich zudem als sehr wirksam bei der Rauchentwöhnung und als Mückenschutz.

Seit den 1990er-Jahren findet die Mesotherapie schließlich auch zunehmend mehr Einsatz in der Ästhetischen Medizin und im Anti-Aging, wo das minimal-invasive Heilverfahren jene Bereiche abdeckt, für die ein ästhetisch-chirurgischer Eingriff verfrüht oder zu aufwendig ist. So lassen sich mit ihr Fältchen glätten, die Haut zum Strahlen bringen oder lokale Fettdepots bekämpfen. Gute Ergebnisse erzielt die Mesotherapie auch bei der Behandlung des Haarausfalls, vorausgesetzt die Haarwurzeln sind noch nicht abgestorben.4

Die Kontraindikationen für die Mesotherapie sind übersichtlich: Hierzu zählen schwere Gerinnungsstörungen, Erkrankungen des Nervensystems, hochfieberhafte oder akute Herpes-Infektionen, Tumorerkrankungen, Hautkrebs und Multiple Sklerose. Während der Schwangerschaft oder der Stillzeit sollten die Mesotherapie bzw. bestimmte Wirkstoffe nicht angewandt werden. Systemische Nebenwirkungen sind aufgrund der Art der Anwendung und der geringen Menge an Wirkstoffen nicht zu erwarten. Mögliche Allergien gegen einzelne Wirkstoffe müssen vorher abgeklärt werden. Nekrosen, Granulome, Keloide und Infektionen treten extrem selten auf und sind meist Folge einer fehlerhaften oder unhygienischen Vorgehensweise.

 

Weiterentwicklungen
Als Heilverfahren entwickelt sich die Mesotherapie kontinuierlich fort. Zu den neuesten Entwicklungen zählen kombinierte Anwendungen mit der Carboxy-(CO2)-, der Ozon-Therapie (O2 + O3) und der PRP-Behandlung im kurativen und ästhetischen Bereich. In der Carboxytherapie wird medizinisches Kohlendioxid in und unter die Haut injiziert. Das Gas erhöht die Mikrodurchblutung und steigert damit die Sauerstoff- und Nährstoffversorgung sowie den Zellstoffwechsel.
Hautelastizität, Hautdichte und Kollagengehalt verbessern sich, während Hautfältchen schwinden. Zudem verringert CO2 lokale Fettdepots und verbessert die Lymphzirkulation. Da das Gas natürlich im Körper vorkommt, bleiben allergische Reaktionen bei der Behandlung aus. Die Carboxytherapie ist in der Ästhetik besonders für die Behandlung schwieriger Zonen wie Augenregion, Gesichtskontur und Dekolleté angezeigt und lässt sich hervorragend mit der Mesotherapie kombinieren.

Ähnlich die PRP-Behandlung: Hier wird plättchenreiches Plasma (PRP) durch zweifaches Zentrifugieren aus 15 ml Eigenblut gewonnen. In Kontakt mit Haut-, Gefäß- oder Bindegewebszellen setzen die Plättchen (Thrombozyten) Wachstumsfaktoren frei, die entscheidend zur Wundheilung und Zellerneuerung beitragen. In die Haut gespritzt, regt PRP die Neubildung von Kollagen, Elastin und körpereigener Hyaluronsäure an. So können Haut und Bindegewebe mehr Feuchtigkeit speichern und werden von innen heraus revitalisiert. Auch für eine effektive Behandlung des Haarausfalls hat sich PRP bewährt. Denn zusätzlich eingesetzt, fördert es die Regeneration der Haarwurzeln und kann ein erneutes Wachstum beschleunigen. Mit seiner wundheilenden und regenerativen Wirkung steigert PRP die Effektivität der Mesotherapie und kann alternierend in größeren Zeitabständen eingesetzt werden.

 

Resümee
Aus einer 1952 in einem kleinen Dorf nahe Paris zufällig gemachten Entdeckung ist mittlerweile ein weltweit angewandtes Heilverfahren geworden, das klassische Medizin mit naturheilkundlichen Verfahren kombiniert, kurze Behandlungszeiten von meist nur wenigen Minuten kennt und trotzdem immer individuell angewandt wird, abhängig von der jeweiligen Indikation und den Bedürfnissen des Patienten.

Mit den Erfahrungen und Erfolgen jener Therapeuten, die die Mesotherapie täglich an ihren Patienten anwenden, hat sich das innovative Heilverfahren aus dem Herzen Europas seit nunmehr zwei Generationen kontinuierlich weiterentwickelt. Europaweit gibt es zahlreiche nationale Gesellschaften für Mesotherapie, so etwa in Belgien, Deutschland, England, Frankreich, Griechenland, Italien, Österreich, Portugal, Schweiz und Spanien, über die der fachliche Austausch erfolgt und Therapeuten in Mesotherapie weitergebildet werden.

Im Ursprungsland Frankreich können Ärzte zudem ein interuniversitäres Diplom in Mesotherapie an den medizinischen Fakultäten der Hochschulen in Auvergne, Bordeaux, Burgund, Lyon und Paris erwerben, das den Inhaber berechtigt, die Mesotherapie auszuüben und auch zu bewerben.5

In Deutschland sind die Aus- und Weiterbildung in Mesotherapie außeruniversitär geregelt. Die Deutsche Gesellschaft für Mesotherapie, DGM, gegründet 1983, bietet regelmäßig Einführungs- und Fortgeschrittenenkurse für Ärzte und Heilpraktiker an – denn nur diese beiden Berufsgruppen dürfen Mesotherapie praktizieren.6

 

Autorin
Dr. med. Britta Knoll
1. Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Mesotherapie e.V.
Pariser Platz 4
81667 München
Tel.: 089-447 172 88
E-Mail: info@mesotherapie.org
www.mesotherapie.org

 

Quellen
1 Mesotherapie-Film von M. Pistor, 1958
2 Stosius A: Retrospektive Studie über die Langzeitergebnisse einer Breitbandimmunisierung (Meso-Vakzination mit der unspezifischen Vakzine Strovac) zur Prophylaxe rezidivierender Luftwegs-Infekte und Heuschnupfen, unveröffentlichte Studie; Berlin 2017
3 Cacchio A et al.: Effectiveness of Treatment of Calcific Tendinitis of the Shoulder by Disodium EDTA. Arthritis & Rheumatism 2009, 61 (1): 84-91 
4 Knoll B: Bildatlas der ästhetischen Mesotherapie – Wirkstoffe, Dosierung, Anwendung. KVM, 2. erw. Aufl. 2017
5 Société Française de Mésothérapie: www.sfmesotherapie.com/non-adherents/DIU/(Stand: 08.11.2017)
6 Deutsche Gesellschaft für Mesotherapie e.V.: www.mesotherapie.org